Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in vielen Städten Europas
und so auch in Deutschland ein neuer Treffpunkt für die „High Society“: das
Atelier des Photographen. Es war einfach chic, sich photographieren zu lassen. Die Ateliers schossen wie Pilze
aus dem Boden: zwischen 1870 und 1890 konnten für Berlin mehr als 800 Namen
eruiert werden. Im Zeitraum von 1850 bis 1900 kann man von weit mehr als 1000
Ateliers ausgehen.
Früher war es nur wirklich
begüterten Personen von Stand möglich, ihr Aussehen der Nachwelt zu überliefern,
indem sie sich von einem Maler porträtieren ließen. Die in der 1. Hälfte des
19. Jh. erfundene Photographie (Herbst 1826, Joseph Nicéphore Nièpce, 1756 – 1833) machte es auch den weniger begüterten
Personen möglich, sich selbst für die Nachwelt darzustellen, und das möglichst
von „seiner besten Seite“. In das neu entstehende Gewerbe wechselten auch viele
Künstler, in der Hoffnung, am Aufschwung teilzuhaben, womöglich erfolgreicher
als im dornenvollen Beruf des Malers. Die Ateliers spezialisierten sich bald
auf bestimmte Bereiche, vor allem die kleineren unter ihnen, um konkurrenzfähig
zu bleiben. Große Ateliers boten auch Motive aus verschiedenen Bereichen an, z.
B. Kunstreproduktionen, Ansichten von Sehenswürdigkeiten Berlins (Brandenburger
Tor / für Stereoskopie = Aufnahmetechnik für räumliches Sehen) und anderer
großer Städte sowie Porträts berühmter Persönlichkeiten, allen voran natürlich
die Kaisersöhne, der Kaiser selbst (Krieg 1870/71) oder Bismarck.
Aus dem Katalog zur Wiener Weltausstellung 1873 weiß man von einigen
Berliner Photographen, wie viele Mitarbeiter
beschäftigt waren: zwischen 6 und vierzehn Personen. Im Atelier und Kunstverlag
E. Linde waren es gar über 20
Mitarbeiter. Eines der bedeutenderen Ateliers in Berlin war das Atelier von Loescher & Petsch in der
Leipziger-Straße 132, der sich „Hofphotograph Sr.
Majestät des Kaisers und Königs“ nennen durfte. Er hatte zahlreiche „Erste
Preis-Medaillen“ und war auch bekannt in „Übersee“, wie man damals oft sagte:
Berlin 1865, Paris 1867, Wien 1873, Philadelphia 1876.
Im Jahr 1891 kamen eines Tages Emma, Peter und Hartwig, vermutlich in
Begleitung ihrer Mutter, ins Atelier Loescher & Petsch, um photographiert zu
werden. Die Namen der Kinder stehen mit Bleistift geschrieben auf der Rückseite
der Photographie. Sie sind ungefähr im Alter von etwa
zwölf, sechs und vier Jahren. Um die geschwisterliche Idylle komplett zu
machen, hat die in der Mitte sitzende große Schwester Emma ein Bilderbuch am
Schoß, aus dem sie den beiden jüngeren Brüdern vorliest. Und um welches Buch
handelt es sich wohl? – Natürlich um den Struwwelpeter!
Die Photographie ist im sgn. Kabinettformat in
der üblichen Größe von ca 10,5 cm x 16,5 cm.