Die Rätsel rund um den Ägyptischen Struwwelpeter – endlich gelöst!


Die bisher kolportierte Entstehungs- und Verkaufsgeschichte um den „Ägyptischen Struwwelpeter“ kann endlich korrigiert werden.


Angeregt durch einen Vortrag im Jahr 2012, im Rahmen des jährlichen Treffens des „Freundeskreis Struwwelpeter-Museum“ beschäftigte ich mich wieder intensiv mit der überlieferten Entstehungsgeschichte des Buchesi. In der wird berichtet, dass Marie von Ebner-Eschenbach eine entscheidende Rolle bei der Herausgabe des Buches gespielt hätte. Auch die Version vom Geburtstagsgeschenk für „Tante Bertha“ war fester Bestandteil der familiären Überlieferung. Große Unklarheit gab es auch wegen eines Plagiatsprozesses, der von Rütten & Loening angestrengt worden war, von dessen genauem Ausgang bisher keine gesicherten Fakten bekannt waren. Die hohen Preise, die das Buch in Antiquariaten und bei Auktionen erzielte, beruhen auf den angeblich „wenigen Exemplaren“, die erhalten geblieben seien. Die Auflage hätte „eingestampft“ werden müssen laut gerichtlichem Bescheid.

Sofort dachte ich an die kurze Nachricht an Magdalena Netolitzky, die sie auf einer Visitenkarte von Dr. Gersuny, dem Ehemann der Beschenkten, erhalten hatte. Dieser fragt bei ihr an, ob die „Autoren-Compagnie“ den vom Verleger vorgeschlagenen Änderungen bezüglich Titel und Illustration zustimmt. Warum wendet sich der Verleger an Gersuny, wenn die Verbindung angeblich doch durch Ebner-Eschenbach entstanden war, wie es in der Familie überliefert ist? Wäre das tatsächlich der Fall gewesen, hätte Gerold sich bestimmt direkt an die Familie Netolitzky gewandt. Gersuny als Vermittler war logisch, weil dieser selbst als Autor bei Gerold‘s Sohn betreut wurde, wie Dr. Sauer heraus gefunden hat. Ebner-Eschenbach hatte laut ihm andere Verleger. Gersuny ist es auch, der den Geschwistern Netolitzky das erste Exemplar und fl. 150.- Honorar überbringt, wie Fritz Netolitzky in seinen Tagebüchern vermerkt.

Darin gibt es einen Eintrag vom 11. April 1896, als er bei den Verwandten in Rokitnitz ist: „ … Ich wurde sehr freundlich, wie immer, aufgenommen, musste viel erzählen, erfuhr dafür meinerseits auch manches, z. B. daß der Struwelpeter frei gegeben worden sei.“ Dieser Satz beschäftigte mich schon lange, er war aber quasi eine Sackgasse, ich fand keine beweisbare Erklärung dafür. Ich wandte mich an einen Klassenkollegen, einen Juristen und Historiker, um Rat. Bevor das noch tatsächlich geschehen war, erhielt ich Mitte November 2012 Nachricht von einem Mitglied der Familie Netolitzky. Der Betreffende schrieb, er hätte beim Aufräumen in alten Dokumenten einen Zeitungsartikel gefunden. Er stammt aus dem „Neues Wiener Tagblatt“, (Oster-Dienstag,) 7. April 1896; in der Rubrik „Gerichtssaal“ steht Folgendes:

(Der egyptische Struwwelpeter – freigegeben.) Kurz nach Neujahr berichteten wir, daß dem alten „Struwwelpeter“ eine Concurrenz erwachsen sei, durch den „egyptischen Struwwelpeter“, der zu Weihnachten das Licht der Buchhandlungen erblickt hatte. Das Auftauchen des egyptischen schlimmen Buben hatte nämlich einen Nachdrucksproceß zur Folge, welchen die Frankfurter Verlagsfirma Rutten u. Löning (sic!) gegen die Verlagsanstalt Gerold’s Sohn anstrengte. Letztere Firma zog hierauf dieses Buch kurz nach seinem Erscheinen wieder aus dem Handel. Wie wir nun erfahren, ist auf Grund einer oberlandesgerichtlichen Entscheidung das Verfahren eingestellt ii und dem „egyptischen Struwwelpeter“, dessen Verfasserin die junge Tochter eines Wiener Staatsbeamten ist, der Weg in die Kinderstuben freigegeben worden.

Ich konnte mein Glück kaum fassen, ich hatte das Ende des Fadens in der Hand! Ich musste nur den Anfang finden. Von meinem Klassenkollegen wollte ich nun nicht mehr und nicht weniger, als Einsicht in Gerichtsakten aus dem Jahr 1895/1896, so sie noch vorhanden waren. Inzwischen suchte ich in der Mikrofilmabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek im Neuen Wiener Tagblatt nach dem erwähnten Artikel „kurz nach Neujahr“, aber auch nach eventuellen Ankündigungen anlässlich des Erscheinens des Buches vor Weihnachten; November und Dezember 1895 fand sich keine Meldung zur Neuerscheinung. Am 19. Jänner 1896 wurde ich endlich fündig:

Gerichtssaal

(Ein Proceß um den „Struwwelpeter“.) Welchem kleinen Thunichtgut hat die Mutter nicht schon mit dem Struwwelpeter gedroht, bevor das Bürschchen noch lesen konnte? Und wenn es soweit war, hat es sich nicht stundenlang an den so lustigen Bildern unterhalten und den Peter mit den gesträubten langen Haaren und ellenlangen Fingernägeln nicht ausgelacht? Das in der ganzen Welt verbreitete Bilderbuch mit seinen drolligen Reimen hat bekanntlich der Arzt und Kinderfreund Dr. Heinrich Hofmann (sic!) in Frankfurt verfaßt, eben bereitet man die zweihundertste Auflage des „Struwwelpeter“ vor. Da erschien kurz vor Weihnachten ein neues Buch im Handel, „Der egyptische Struwwelpeter“ benannt, in welchem der gute deutsche Peter in Wort und Bild ins Egyptische übertragen erscheint. Aus dem bösen Friedrich(sic!) wird da ein böser „Psammetich“, aus dem großen Niklas ein Osiris, aus dem schlimmen Philipp, der niemals ruhig bei Tische sitzen wollte, ein Thutmes, der die Pyramiden von Gizeh erklettert und auf gräßliche Weise verunglückt. iii Der Suppen-Kaspar hat sich in einen Walzer-Rhamses (sic!) verwandelt u.s.w. Ob der egyptische Charakter, den die Struwwelpeter-Figuren in dem neuen Bilderbuche trugen, unserer heutigen Jugend zusagen würde, konnte aber bisher nicht erprobt werden, denn die Verlagshandlung Carl Gerold’s Sohn, bei welcher der egyptische Struwwelpeter erschien, zog unmittelbar vor Weihnachten dieses Buch aus dem Handel. Kurz nach dem Erscheinen desselben hatte nämlich die Frankfurter Verlagshandlung Rütten u. Löning (sic!), welche das Verlagsrecht für den echten Struwwelpeter innehat, beim Landesgerichte eine Klage wegen unbefugten Nachdruckes, begangen durch die Herausgabe des „egyptischen Struwwelpeters“, erhoben. Die Verlagsfirma Gerold zog daraufhin, wie erwähnt, das Buch bis nach Austragung des Processes zurück. Dem Gerichte liegen bereits in dieser Sache zwei Sachverständigengutachten vor, allein dieselben widersprechen einander vollständig. Während in dem einen Gutachten erklärt wird, daß der „egyptische Struwwelpeter“ auf Grundlage des alten deutschen Struwwelpeters geschrieben und der Inhalt theilweise hinübergenommen wurde, behauptet das zweite, daß der „egyptische Struwwelpeter“ ein ganz neues, auf originalen Ideen basirendes Buch sei. Ob dieser Proceß vor den Schranken des Gerichtes ausgetragen wird, ist in dem gegenwärtigen Stadium nicht vorauszusehen; jedenfalls machen die Verleger des Dr. Hofmann (sic!) alle Anstrengungen, um die alten, angestammten Rechte ihres Struwwelpeters zu wahren.

(Neues Wiener Tagblatt, 30. Jg. Nr 18; Sonntag, 19. Jänner 1896)

Der Bericht ist z. T. ident mit einem Beitrag in den „Nachrichten aus dem Buchhandel“, Nr. 20 vom 25. Januar 1896, S. 194f. Die „Nachrichten aus dem Buchhandel“ erschienen in Deutschland 6 Tage nach dem Artikel im „Neuen Wiener Tagblatt“. Der „Struwwelpeter“ war damals weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt, was die vielen Übersetzungen der damaligen Zeit beweisen. Es erstaunt aber doch, dass am 6. Februar 1896 im „Rotterdamsch Nieuwsblad“ der Artikel aus dem „Neuen Wiener Tagblatt“ nahezu gleichlautend übernommen wurde, möglicher Weise aber auch aus den „Nachrichten aus dem Buchhandel“.iv

Mein Klassenkollege fand zwar keine Gerichtsakten, aber eine plausible Erklärung für die Abweisung der Klage und Einstellung des Verfahrens, nämlich ein Gesetz:

Gesetz vom 26. December 1895 (enthalten in dem heute, den 31. December 1895, ausgegebenen XCI. Stück des RGBl. unter der Nr. 197) betreffend das (erste) Urheberrecht an Werken der Literatur, Kunst und Photographie. Mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrathes (Herrenhaus und Abgeordnetenhaus) finde Ich (Kaiser Fr. Joseph I.) anzuordnen wie folgt: ….

II. Abschnitt, Inhalt des Urheberrechtes
a) Bei Werken der Literatur, § 24, Abs. 3: Als Eingriff in das Urheberrecht (Nachdruck) ist insbesondere anzusehen: … die Herausgabe eines Auszuges oder einer Bearbeitung, welche nur das fremde Werk oder dessen Bestandtheile
v wiedergibt, ohne die Eigenschaft eines Originalwerkes zu besitzen ; …

Was hieß das nun für den Ägyptischen Struwwelpeter?

In der „Österreichischen Buchhändler-Correspondenz“ fand sich im entsprechenden 37. Jg/1896 keinerlei Hinweis auf diesen Prozess und so ist wohl davon auszugehen, dass die Sache mit dieser oberlandesgerichtlichen Entscheidung ein glückliches Ende fand.

Mein Jagdinstinkt ließ weiter suchen, diesmal in der „Wiener Zeitung“. Ich suchte die oben erwähnte Kundmachung des Gesetzes und fand sie in der Nr. 302 vom 31. Dezember 1895 im „Amtlicher Theil“. Es wurde am 26. Dezember beschlossen und trat sofort in Kraft. Sein § 65 lautet nämlich: „Das gegenwärtige Gesetz tritt mit dem Tag seiner Kundmachung in Wirksamkeit. Es findet auf die vorvi Beginn seiner Wirksamkeit erschienenen Werke Anwendung; jedoch bleiben für solche Werke die bisherigen Schutzfristen, insoweit sie länger sind, aufrecht.“ Der Tag der Kundmachung war der 26. Dezember 1895.

Ich hoffte außerdem auch noch auf einen Hinweis auf die Neuerscheinung im Verlag Gerold’s Sohn, bei dem das Verlegen von Kinderbüchern ja nicht das tägliche Geschäft war. Ich wollte einfach nicht glauben, dass dieses Buch ohne Vorankündigung, einfach nur so, in den Buchhandlungen verkauft worden sein sollte. Meine Hartnäckigkeit wurde belohnt:


Wiener Zeitung Nr. 268, Dienstag 19. November 1895, p. 5

In der Rubrik „Kleine Chronik“ findet sich folgender Eintrag:

(Der ägyptische Struwelpeter) (sic!) Ein lustiges Bilderbuch bringt der Verlag von C. Gerold‘s Sohn in Wien mit dem „ägyptischen Struwelpeter“ (sic!) auf den Weihnachtsmarkt. Kinder und vielleicht auch Unterhaltung suchende Erwachsene werden sich an den alten Geschichten mit ihren flotten bunten Bildern in „ägyptischem Styl“ erheitern und ergötzen.

Ich hatte den Anfang des Fadens gefunden!

Die Lebensdaten von Frau Bertha Gersuny waren immer noch nicht geklärt und damit auch nicht ihr Geburtstag. Wie so oft, sollte sich das Internet hilfreich erweisen. Dort existiert ein Verzeichnis der auf Wiener Friedhöfen begrabener Personen. Ich hatte keinen Grund zu zweifeln, dass Gersunys nicht in Wien begraben worden wären. Die Lebensdaten von Richard Gersuny fanden sich im ÖBLvii und mit diesem Basiswissen startete ich die Suche in der Datenbank der Wiener Friedhöfe. Gleich der erste Versuch war ein Volltreffer: das Ehepaar Gersuny liegt am Friedhof Dornbach, Gruppe 14, Reihe 3, Grabnummer 35. Dr. Robert Gersuny starb am 31. 10. 1924 und wurde am 3.11. 1924 beigesetzt. Frau Bertha Gersuny ist am 05. 04. 1900 verstorben und wurde am 07. 04. 1900 beigesetzt. Die genauen Lebensdaten waren leider nicht vermerkt, aber das Alter der Verstorbenen war mit 56 Jahren angegeben. Dazu bekam ich noch einen Hinweis vom Kundenservice, wo eventuell genaue Lebensdaten zu erfahren sein könnten, u.z. im Wiener Stadt- und Landesarchiv. Dort gäbe es möglicher Weise noch die Verlassenschaftsakte. Meine Anfrage dort war zum Teil erfolgreich: von Robert Gersuny existierte kein entsprechender Akt, aber von Bertha Gersuny. Der in z. T. leserlicher und z. T. unleserlicher Schrift abgefasste Verlassenschaftsakt verriet mir, dass Frau Gersuny eine geborene Bertha Götzl aus Lauterbach in Böhmen/Kreis Teplitz war, dass sie keine leiblichen Nachkommen, aber eine zahlreiche Verwandtschaft hatte, die erbberechtigt war. Das gesuchte Geburtsdatum fand sich zu meiner Verwunderung nicht, aber das Alter bei Ableben – 56 Jahre – fand ich bestätigt. Ich rechnete und stellte fest, dass Frau Gersuny vermutlich genau so alt gewesen war, wie ihr Mann: waren beide 1844 geboren? Robert Gersuny wurde am 15. Jänner 1844 geboren, das ist sicher.

Dr. Sauer rätselte in seinem Vortrag in der „Gar traurigen Geschichte vom Rauchtabak“ am Datum des Dekrets (11. Ahyr), das Minderjährigen und Damen das Rauchen verbietet, ob es vielleicht der Geburtstag von Bertha Gersuny ist. Dieser Tag fällt laut Wikipedia in den September, in der vordynastischen Zeit in den Oktober. Ist der 11. Oktober der Geburtstag von Frau Gersuny, und doch nicht Ende Februar? Dann wäre sie 1843 geboren und somit sogar um 3 Monate älter als ihr Mann. Ihr Alter wird im April 1900 mit 56 Jahren angegeben, d. h. sie war noch nicht 57 Jahre alt bei ihrem Tod.

Die Geburtstage der drei Autoren fallen ebenfalls in die angegebene Zeitspanne für den Ahyr/Hathyr – September oder Oktober; gibt es dazu einen Bezug? Magdalene/4. September, Richard/19. September, Fritz/1. Oktober.

Eine andere Möglichkeit der „Geschenks-Variante“ gibt es m. E. noch: In einem Brief vom März 1894 schreibt die Mutter der drei Autoren an ihre eigene Mutter, dass die Arbeit am Struwwelpeter lange geruht hätte. …Magda malt an ihrem Struwwelpeter für Frau Gersuny, der jetzt lange still gelegen, die rechte Lust fehlt jetzt eben dazu… (Das bezieht sich auf den überraschenden Tod von Dr. Billrothviii am 4.Februar 1894; er war der Vorgesetzte von Gersuny und auch mit Dr. Netolitzky, dem Vater der drei Autoren, befreundet.) War der „Ägyptische Struwwelpeter“ vielleicht gar nicht als Geburtstagsgeschenk geplant, sondern sollte er einfach ein „Dankeschön“ für die Teilnahme an der Tanzstunde und sonstige freundliche Zuwendungen und Einladungen sein? Ich werde später noch näher darauf eingehen.

Eine Möglichkeit, das Geburtsdatum doch noch fest zustellen blieb noch: die Totenmatrikeln, in denen manchmal die Geburtsdaten der Verstorbenen eingetragen werden. Dazu musste ich die Pfarre ausfindig machen, zu der die Wohnadresse der Gersunys gehörte. In der Annahme, es sei die Pfarre Dornbach – auf diesem Friedhof befindet sich ja das Grab – fuhr ich zum Dornbacher Friedhof. Mit den mir bekannten genauen Angaben zur Lage fand ich das Grab rasch. Meine vage Hoffnung, dass genaue Lebensdaten darauf vermerkt wären, erfüllte sich nicht, also wandte ich mich an die Friedhofsverwaltung. Im dortigen Verzeichnis stellte sich heraus, dass Gersunys nicht zur Pfarre Dornbach gehört hatten, ihre Heimatpfarre war aber leider nicht eingetragen. Ich suchte mit der Wohnadresse im Internet die zugehörige Pfarre und deren Kanzleistunden. Bei einer telefonischen Anfrage wurde mir bestätigt, dass die Lebensdaten in den Matrikeln nicht obligatorisch angegeben worden sind. Bei meinem Besuch in der Pfarrkanzlei fand ich im Totenbuch von 1900 auf der p. 33 den Eintrag zu Bertha Gersuny: sie war am 5. April, 6 Uhr abends verstorben. Todesursache: Neubildung des Bauchfelles – Krebs; verzeichnet war weiters, dass sie seit 15. Februar 1873 verheiratet war, 56 Jahre war die mir bereits bekannte Altersangabe, und darunter standen noch einige Ziffern, die für mich nicht sofort zu interpretieren waren. Nach dem Vergleich mit anderen Einträgen und einigem Kopfrechnen gelang mir aber die Auflösung: Frau Bertha Gersuny war am 4. April 1844 geboren! Der „Ägyptische Struwwelpeter“ als Geburtstagsgeschenk scheidet daher eindeutig aus!!!

Kehren wir zurück zum Brief von Frau Netolitzky an die Großmutter der drei Autoren und zu dem Hinweis von Fritz Netolitzky, dass das Buch bis Ende Februar fertig sein sollte. Eine andere Lösung erscheint mir plausibler: Richard Netolitzky berichtet in seinen Erinnerungen über die Tanzstunden bei Gersunys, dass jeweils eine Tanzstunde im Monat eine „verlängerte Tanzstunde“ war, zu der ältere Freunde und Geschwister der Tanzschüler eingeladen wurden. Die Übergabe des Geschenks war laut Tagebuch höchstwahrscheinlich für diese verlängerte Tanzstunde Ende Februar geplant, die sogar als Kostümball gestaltet werden sollte, wie an anderer Stelle erwähnt wird. Mit dem überraschenden Tod von Billroth am 6. Februar 1894 endet die Tanzstunde jedoch. Die Idee wird aber weiter verfolgt, da Fritz am 25. Februar vermerkt: Nachmittag ‚machte‘ ich Papier für den Strubelpeter (sic!) …“

Zwischen März und August kommt es zu den entscheidenden Gesprächen zwischen Gersuny und seinem Verleger, wie aus einem Brief der Mutter hervorgeht und in einem Brief vom 8. Oktober 1894 berichtet sie folgendes: „… Gestern hatte Magdalene den Struwwelpeter, der jetzt aber ,Gigerl Typhon‘ heißt, fertig und trug ihn zu Frau Gersuny, …“ Das verspätete „Dankeschön“ für die Tanzstunde wurde also am 7. Oktober 1894 überreicht.

Wiederum in einem Brief der Mutter vom 11. Juni 1895 ist von der oben erwähnten Visitenkarte die Rede und dazugibt es noch weitere Informationen: die Herausgabe des Buches ist für den Oktober 1895 geplant, jedoch auf Grund der hohen Druckkosten nur im Umfang von 16 Blatt. Die witzige Vorrede, nach der der Frankfurter Struwwelpeter nur eine Nachahmung des Ägyptischen sei, bleibt aus Kostengründen weg. Auch die Geschichte über das Militär fällt der verlagsinternen „Zensur“ und dem Sparstift zum Opfer. Das Buch soll unter dem Titel „Ägyptischer Struwwelpeter“ erscheinen. Die von der Druckerei Nister in Nürnberg geforderten Druckkosten von fl. 5000,- seien zu vielix, der geplante Verkaufspreis müsse unter einem Gulden liegen und deshalb beträgt das Autorenhonorar nur fl. 150,- und dreißig Freiexemplare. Gersunys bedauern die niedrige Summe, sollte es aber zu einer weiteren Auflage kommen, werde man neu verhandeln und darauf drängen, alle Bilder zu drucken.

Nach all diesen neuen Erkenntnissen kann man mit relativer Sicherheit annehmen, dass es sich so oder sehr ähnlich abgespielt hat. Der immer wieder kolportierte Plagiatsvorwurf ist m. E. durch die oben angeführten Fakten (Urheberrechtsgesetz vom 26. Dezember 1895 und darauf Abweisung der Klage durch das Oberlandesgericht Wien) widerlegt und ein kleiner Mosaikstein in der Geschichte der österreichischen Kinder- und Jugendliteraturforschung kann hinzu gefügt werden.

Am 8. August 2013 konnte die „Wiener Zeitung“ – die älteste noch erscheinende Tageszeitung der Welt – ihren 310. Geburtstag feiern. Im Rahmen dieser Jubiläumsausgabe erschien in der Beilage „Zeitreisen“ ein Beitrag unter dem Titel „Struwwelpeter im Pharaonenland“.

Struwwelpeter – 170 Jahre jung“ lautet der Titel einer Ausstellung im Kammerhofmuseum Bad Aussee/Steiermark, die vom 11. April bis 31. Oktober 2014 zu sehen sein wird. Die ausgestellten Objekte sind ein kleiner Teil meiner Sammlung zu diesem Kinderbuchklassiker.


i Der Vortrag wurde im Rahmen des jährlichen Treffens des „Freundeskreis Struwwelpeter-Museum“ gehalten. Er fasst die Überlegungen zusammen, die im Zuge der Herausgabe des zweisprachigen Wendebuches „Der Ägyptische Struwwelpeter“ vom Verleger Dr. Walter Sauer angestellt wurden; „Editon Tintenfaß“ 2013, ISBN 978-3-943052-09-1

ii Hervorhebung durch die Autorin

iii Stimmt nicht, der Zappel-Philipp fehlt im Ägyptischen Struwwelpeter, da es in dieser Parodie um das österreichische Militär ging. Die Grundlage für die Geschichte von Thutmes ist der Jägersmann, daraus wird sogar zitiert bei dessen Flucht vor der Mumie: Er läuft davon und ruft und schreit: „Zu Hilf‘, ihr Leut‘, zu Hilf‘ ihr Leut‘!“ . Außerdem ist das Bild eine direkte Bezugnahme auf Fritz Netolitzky, der ein großer Bergsteiger war; von ihm existiert ein Foto in ganz ähnlicher Pose.

iv Diese interessante Information verdanke ich Theo Gielen, dem niederländischen Fachmann für Kinder- und Jugendliteraturforschung und damit auch für den Struwwelpeter und seine Verbreitung in den Niederlanden. Er ist Mitglied des oben genannten Vereins in Frankfurt.

v Hervorhebung durch die Autorin

vi Hervorhebung durch die Autorin

vii Österreichisches biographisches Lexikon

viii Theodor Billroth war Mitbegründer und erster Leiter des „Rudolfinerhaus(es)“ in Wien, eine der ersten Ausbildungsstätten für Krankenschwestern in Österreich-Ungarn.

ix Das entspricht ca. € 40.000.- für die Druckkosten, für das Autorenhonorar ca. € 1200,-