Ganz neu ist die Mitteilung einer weiteren musikalischen Struwwelei nicht, da sie schon im ersten Teil der Bibliographie von J. Baumgartner angeführt wird. Ungefähr zeitgleich mit dem Erscheinen von Teil 1 der Bibliographie stieß ich ebenfalls auf Angaben zu einer musikalischen Bearbeitung des Struwwelpeter. In der “Neuen Freien Presse“ vom 11. Jänner 1898 schreibt man dazu: Bisher durften nur Johann Strauß und Offenbach sich rühmen, auf zwei Wiener Bühnen gleichzeitig gespielt worden zu sein. Nun ist dasselbe Glücksambo auch Richard Heuberger zugefallen. Mit seinem „Struwwelpeter“ prangt er auf dem Theaterzettel der Hofoper und daneben mit „Opernball“ an der Wien (gemeint ist das auch heute noch bestehende „Theater an der Wien“). Wer war nun Richard Heuberger und was ist in seinem Struwwelpeter zu sehen?

 

Richard Franz Joseph Heuberger wurde am 18. Juni 1850 in Graz/Steiermark geboren. Sein Vater Johann war Bandagist, aber auch ein eifriger Sänger , Gitarrist und Flötist. Künstlerische Tätigkeit und Heirat verbinden die Familie Heuberger mit Beethoven und Schubert. Ein Leopold Heuberger war als Medailleur tätig und porträtierte Beethoven. Eine Cousine des Vaters, Henriette Heuberger, war mit Andreas Schubert, dem Stiefbruder von Franz Schubert verheiratet.

 

Nach dem Abschluß eines Technikstudiums in Graz 1875 begann er als Bahningenieur im Staatsdienst. Es war die große Zeit des Eisenbahnbaues, die zum Teil Privatbahnen, zum Teil Staatsbahnen waren. Gemeinsam war den meisten die Benennung nach einem Mitglied des Kaiserhauses. Heuberger war beim Bau der „Giselabahn“ tätig, benannt nach einer der Töchter des Kaisers. Sie führte von Salzburg über Bischofshofen nach Wörgl mit einer Abzweigung nach Selzthal. Er wandte sich aber schon 1876 endgültig der Musik zu, war als Chorleiter einiger Wiener Chöre tätig (z. B. Wiener Singakademie und Schubertbund, Chöre, die auch heute noch bestehen und zum Wiener Musikleben ihren Beitrag leisten) und Professor am Wiener Konservatorium. Vor allem als Musikkritiker war er gefürchtet und offensichtlich ein würdiger Nachfolger Hanslicks bei der „Neuen Freien Presse“. Zeitweilig schrieb er auch für die Münchner „Allgemeine Zeitung“. Eine bedeutende Schubert-Biographie stammt aus seiner Feder.

 

Schon bald trat Heuberger mit viel beachteten Kompositionen im Bereich der Kammermusik hervor. Sein vergöttertes Vorbild war Johannes Brahms und in dessen Stil komponierte er anfangs auch. 1886 führten die Wiener Philharmoniker Heubergers Symphonie in F-Dur auf. Später wandte er sich ganz der Bühne zu und schrieb Opern und Operetten.

 

Sein „Struwwelpeter, Ballet-Pantomime in vier Abtheilungen“ war „seinen lieben Kindern gewidmet“. Mitte Juni 1896 begann er mit der Komposition, am 16. Oktober 1896 war die Partitur vollendet. Im Dezember 1896 komponierte er die Ouvertüre und am 5. Jänner 1897 wurde das Ballett in Dresden uraufgeführt unter einem gewissen E. Schuch. Direktor Jahn von der Wiener Hofoper zeigte Interesse dafür und am 8. Jänner 1898 kam es in Wien zur Aufführung unter keinem geringerem als Gustav Mahler, der seit 1897 Dirigent, und von 1898 bis 1907 Direktor des Hauses war.

 

Das Libretto stammt von Viktor Léon (eigentl. Viktor Hirschfeld *4.1.1858 in Wien, + 3.2.1940 ebenda), der Dramaturg am Deutschen Volkstheater in Wien war. Zum Teil zusammen mit seinem Bruder Leo Hirschfeld verfaßte er zahlreiche Volksstücke und Operettenlibretti, darunter so bekannte wie  „Wiener Blut“, Die lustige Witwe“, „Das Land des Lächelns“, „Der fidele Bauer“ und eben auch „Der Opernball“ von Heuberger.

 

Von Heubergers Bühnenwerken ist aber lediglich die Operette „Der Opernball“ geblieben, von den anderen Bühnenwerken kennen nur Fachleute noch die Titel, z. B. “Abenteuer einer Neujahrsnacht“, „Barfüßele“, „Der Sechsuhrzug“ und noch einige andere. Selbst aus dem „Opernball“ gibt es nur einige „Schlager“, die auch heute noch bekannt sind, z. B. „Komm mit mir in´s Chambre separée“.

 

Der Erfolg des „Opernballs“ machte ihn aber nicht wirklich glücklich. Es war der Stachel in seinem Fleisch, als Operettenkomponist etikettiert zu sein, und nicht als Schöpfer ernster Werke zu Ruhm und Ehren gelangt zu sein. Auch unserem „Struwwelpeter“ erging es nicht besser, er verschwand in der Versenkung, obwohl er zu Lebzeiten des Komponisten sehr erfolgreich gewesen sein soll, wie Zeitungsberichten zu entnehmen ist. Das zweite Ballett aus Heubergers Feder ist „Die Lautenschlägerin“.

 

Richard Heuberger lebte die letzten Jahre in seinem Haus in Hinterbrühl bei Mödling, wo er am 28. Oktober 1914 starb. Begraben ist er am Ortsfriedhof von Hinterbrühl, einem kleinen Ort südlich von Wien, der um die Jahrhundertwende begüterten Bürgerfamilien als Sommerfrische diente. Eine meiner Tanten und ihr Mann galten übrigens als erste „Sommerfrischler“ im Ort. Der Name Heubergers war immerhin noch bis in die Mitte unseres Jahrhunderts so bekannt, daß eine österreichische Tageszeitung im Juli 1950 des hundertsten Geburtstages des Komponisten des „Opernballs“ mit einem ausführlichen Artikel gedachte.

 

Der Inhalt der Pantomime ist schnell erzählt. Des Teufels Großmutter ist verärgert über die kleinen Teufel, die nur Unfug treiben, weil sie keine Spielgefährten haben. Sie schickt den Teufel auf die Erde, damit er geeignete Spielgefährten suche. Der sammelt in bunter Reihenfolge die verschiedenen Figuren aus dem Struwwelpeter ein und bringt sie zur Hölle. Dort angekommen, werden Friederich, Paulinchen und Gefährten aber so sehr von den kleinen Teufeln gequält, daß sie auf die Knie fallen, zu beten beginnen und dem lieben Gott reuig Besserung geloben. Engel geleiten sie zurück auf die Erde, wo die Vermißten schön frisiert und kugelrund von den jeweiligen Eltern freudig in Empfang genommen werden.

 

Der Nachlaß von Richard Heuberger befindet sich in den Musiksammlungen der Wiener Stadt- und Landesbibliothek sowie der Österreichischen Nationalbibliothek. Bei beiden Institutionen habe ich Einsicht genommen in Klavierauszüge sowie Orchestermaterial. Letzteres stammt aus dem Fundus des Jantsch-Theaters im k.k. Prater in Wien. Es ist eine Autografie von einem gewissen R. E. Sonnleithner, der in meiner Heimatstadt Mödling in nächster Nachbarschaft meiner Großeltern wohnhaft war, wie aus seiner penibel in die Noten eigetragenen Adresse hervorgeht. Der Klavierauszug ist im Verlag von Josef Weinberger, Wien, Leipzig, Paris erschienen. Am Umschlag ist als Erscheinungsjahr 1896 angegeben, innen steht aber Copyright 1897. Dieses Jahr wird auch in allen eingesehenen Musiklexika angeführt. Heuberger war auch Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts noch so bekannt, daß eine umfangreiche vierbändige Dissertation mit Werkverzeichnis geschrieben wurde (Peter Grunsky), die ich ebenfalls für meine Recherche benutzte.

 

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